Aufbruch ins Jetzt – Der Neue Deutsche Film im Gespräch
Beat Presser. Zweitauflage jetzt bei Zweitausendeins.
Einige kurze Interviewauszüge aus dem Buch:
„Die Klappe, eine geniale Erfindung aus der Frühzeit des Tonfilms ist. Heutzutage brauchen wir die Klappe nicht mehr für die Synchronisation von Ton und Bild. Wir brauchen sie allerdings als magisches Objekt vor Beginn einer Szene. Eine Filmaufnahme startet mit der Ansage ,Ton ab‘. Der Tonmeister schaltet sein Gerät ein, und sobald das läuft, schaltet der Kameramann die Kamera an. Erst dann kommt die Klappe. Und die Klappe wird geschlagen – ein magisches Ritual! Dieses Holzstück, das zusammengeschlagen wird, erzeugt ein charakteristisches Geräusch, und wer je im Film mitgearbeitet hat, weiss nach der Klappe beginnt die Wahrheit. Vor der Klappe ist Chaos!
Edgar Reitz
„Ich sehe die Filme als Geschichte oder Teile der Geschichte. Es ist sehr wichtig, dass man die alten Filme sieht, um einen Eindruck von der damaligen Zeit zu bekommen. Auch Trivialfilme sollten aufbewahrt werden, ein Trivialfilm, der die Leute, wie sie heute leben, beschreibt, ist in einigen Jahrzehnten ein interessantes Dokument.“
Erika Gregor
“Dann habe ich angefangen, ihm von den Engeln zu erzählen, und da hat der Kameramann Henri Alekan mich schon unterbrochen, bevor ich überhaupt zu Ende erzählen konnte: „Pass auf, Wim, ich muss ganz schnell ein Telefonat machen.“ Er rief seinen Oberbeleuchter Louis Cochet an: „Louis, ich mache bald wieder einen Film, und ohne Dich geht es nicht. Louis war auch heilfroh, aus dem verfluchten Rentnerdasein herauszukommen, und hat sofort gesagt: „Ich bin dabei!“ Dann haben diese beiden alten Herren als Team den Film völlig gerockt. Henri war 79 und ist während der Dreharbeiten 80 geworden, Louis war drei Jahre älter, 82.“
Wim Wenders / Himmel über Berlin
„Ein Mann, der etwas kleiner war als ich, meinte dann: „Bello, vero? Un arte di diavolo o di dio, il cinema!“ Er drehte sich zu mir um und sagte: „Tu vai fare cinema!“ Und das war Pier Paolo Pasolini; er hat mir den Mut gegeben, das wirklich zu tun! Ich bin ihm dann auf den Fersen geblieben. Er sagte mir, er hätte zwar keinen Job für mich, weil ich noch nie einen Film gemacht hätte, aber ich könnte ihn begleiten: „Lass Dir einen Stuhl hinstellen, wir schreiben Helma drauf, und dann bist Du einfach da.“
Helma Sanders Brahms
„Man vergisst immer, dass das Kino erst 120 Jahre alt ist, also eine verhältnismässig junge Disziplin im Vergleich zur Musik und zur Malerei. Die ersten Höhlenbilder sind tausende von Jahren alt. Wir sind im Kino noch total am Anfang. Kino wird sich noch tausendmal verändern und erneuern. Auch mit diesem Quantensprung, den das analoge Kino in die digitale Welt gemacht hat, lässt sich im Prinzip heutzutage jede Art von Phantasie, jeder Traum im Kino realistisch darstellen, beispielsweise Avatar. Trotzdem ist King Kong in seiner ersten Schwarzweiss-Fassung genauso grossartig wie die modernen Versionen.“
Joachim von Vietinghoff
PRESSE – RETTET UNSER KINO-ERBE!
Der Neue Deutsche Film wird zunehmend vergessen. Der Schweizer Fotograf Beat Presser will das verhindern.
Der Saal war gerammelt voll und die Stimmung gereizt. Die drei Filmer waren um Stunden verspätet, und es prasselten Anschuldigungen und provokative Fragen auf sie nieder. Es wurde geraucht und gestritten, aber wer als Sieger hervorging, schien von vornherein klar. Es waren die „Gefürchteten drei.“ So erinnert sich der Schweizer Fotograf Beat Presser an eine Pressekonferenz mit dem Regisseur Daniel Schmid und seinen beiden Hauptdarstellern Ingrid Caven und Rainer Werner Fassbinder zu „Schatten der Engel“, der Verfilmung von Fassbinders umstrittenen Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Es war die erste intensive Begegnung des 23-Jährigen mit dem Neuen Deutschen Film, und er war schwer beeindruckt. So unbeirrt wollte er auch seinen Weg gehen!
Dreieinhalb Jahrzehnte, zehn Fotobände und ungezählte Ausstellungen später lief Beat Presser auf dem Eröffnungsempfang der Berlinale umher und traf Volker Schlöndorff und Michael Ballhaus und Ulrike Ottinger. Plötzlich schoss es ihm durch den Kopf: Was ist eigentlich aus meinen Vorbildern von damals geworden? Das lässt sich in Zeiten von Wikipedia einfacher beantworten als früher, bis zu einem gewissen Punkt. Immerhin stellte sich der doppelte Außenseiter – ein Schweizer und ein Fotograf – eine Frage, die sich in der Branche kaum jemand zu stellen scheint: Was ist aus einer Periode geworden, die immerhin zwei Jahrzehnte der deutschen Filmgeschichte ausmacht, von Mitte der Sechziger bis Mitte der Achtziger, und die Themen behandelte, die heute uns heute mehr denn je umtreiben: Welches Bild hat Deutschland von sich selbst? Wie findet der moderne Mensch seine Identität? Die Antwort lautet, sehr pauschal: Die Frage wird ignoriert. Wir Deutschen setzen damit eine verheerende Tradition fort. Die nachfolgende Generation versucht stets, die vorhergegangene auszulöschen, ein Vatermord nach dem anderen, fünf bis heute. Als der Ton kam, wurden die Stummfilme entsorgt, drei Viertel der Produktion existiert nicht mehr. Als die Nazis kamen, ging ein Gutteil der Kreativen ins Exil, ihre Filme wurden verbannt. Als die Nazis vertrieben waren, blieb das Filmpersonal, aber die Produktion von zwölf Jahren wurde kollektiv unter Verdacht gestellt. Als der Neue Deutsche Film kam, wurden zwei Jahrzehnte Nachkriegsproduktion als „Papas Kino“ heruntergemacht; nur auf einige Stummfilmheroen bezog man sich und auf Franzosen und Amerikaner. Als der Junge Deutsche Film auslief, kam etwas, das bis heute keinen richtigen Begriff hat, aber in einem waren sich die Nachgeborenen einig, Neues Deutsches Kino wollten sie nicht sein. Vatermord Nr. 5, also. Ein paar Väter sind ihm entgangen: Fassbinder (zu monströs, um weggeblendet werden zu können, zudem liebt ihn das Ausland), Wenders (immer präsent und sich stets erneuernd), Schlöndorff (scheinbar unverwüstlich und mit dem „Blechtrommel“- Oscar), Herzog (der nach Amerika musste, um von einer jungen Generation neu entdeckt zu werden), von Trotta (Pionierin des Feminismus) und meinetwegen noch Kluge (Medienguru und kulturhistorischer Alleserklärer). Der Neue Deutsche Film wird zunehmend zur terra incognita. Ein Deutscher heute hat mit größerer Wahrscheinlichkeit „Nosferatu“ (1921) gesehen als „Messer im Kopf“ (1978), eher „Metropolis“ (1926) als „Supermarkt“ (1974). Wer vom Neuen Deutschen Film spricht, hantiert oft mit Begriffen wie „sozialkritisch“, „verkopft“, „unkommerziell“, „Minderheitenprogramm“. Oder, wie es ein Bekannter jüngst formulierte: „sozialdemokratisch“. Schlimmer kann man etwas momentan kaum disqualifizieren, das klingt nach betulich, veraltet, irrelevant. Das Kino wird zum Kollateralschaden der konservativen Revancheoffensive, die alles, was nach Achtundsechzig riecht, am liebsten ungeschehen machen würde. Dies ist keine glühende Verteidigung des Neuen Deutschen Films. Er hat es einem zuweilen ganz schön schwer gemacht, ihn zu mögen. Dies ist eine Klage über eine kollektive Verweigerung, sich angemessen mit seiner Bedeutung zu beschäftigen. Die Berlinale hat ihm nie eine Retrospektive gewidmet. Die Kinemathek hat ihn nie in einer Ausstellung thematisiert (nur Einzelpersonen wie den Kameramann Robby Müller oder die Produzentin Regina Ziegler). Für die meisten Beteiligten existieren keine Monografien. Es gibt eine 25 Jahre alte Darstellung von Thomas Elsässer und ein Reclam-Bändchen mit drei Dutzend Filmbeschreibungen und vier Dutzend Seiten Übersicht, aber kein Historiker hat sich jemals daran gesetzt, eine Gesamtdarstellung zu schreiben. Auch Beat Pressers Mammutprojekt ist das nicht, aber es versammelt immerhin 55 Protagonisten des Neuen Deutschen Films: Bekannte aus seiner Zeit als Set-Fotograf für Werner Herzog oder Bekannte dieser Bekannten, eine zufällige und doch aussagekräftige Mischung von Wim Wenders und Volker Schlöndorff über Bruno Ganz und Irm Hermann bis zu der Kostümbildnerin Barbara Baum und dem Produktionsleiter Walter Saxer (er war es, der das „Fitzcarraldo“-Schiff über den Berg brachte). 55 Interviews hat er im Lauf von neun Jahren geführt, 56 Fotositzungen hat er veranstaltet, von Berlin bis in den Amazonas. Es ist die Herzensangelegenheit eines Einzelgängers, der sich vom Desinteresse der offiziellen Geschichtsschreibung nicht schrecken ließ. Als er keinen Verlag fand, hat er gemeinsam mit der Grafik Designerin Vera Pechel einen gegründet, der die Interviews unter dem Titel „Aufbruch ins Jetzt“ herausbringt. Als keine der deutschen Filminstitutionen seine Fotos ausstellen wollte, ist er zur Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München gegangen, wo sie ab Donnerstag zu sehen sein werden. Und als es schon schien, das werde die einzige Gelegenheit sein, meldete sich diese Woche doch ein Verlag: Zweitausendeins hat Interesse an einem Bildband. Nehmen wir es als einen Anfang.
Hanns-Georg Rodek / Welt. Juni 2019